von Anni Gstach-Bell

„Das Neue entsteht nur aus ungeschickten Anfängen!“
Peter Weiss (1)

Neulich fragte mich Gerald Specht, Rhythmiklehrer unseres Sohnes, warum Jakob seit immerhin bereits vier Jahren Woche für Woche ins Studio komme, was ihn denn zu einer solchen Kontinuität bewege. Ach, meinte ich leichthin, er will ganz einfach deshalb so selbstverständlich in seine Rhythmikgruppe, weil sie ihm besonders gut tut.

Nun könnte ich mich mit dieser lapidaren Antwort eigentlich begnügen, denn meine vorrangigsten Mutterwünsche sind ja zunächst schon erfüllt, wenn Jakob dermaßen klar und unkompliziert, freudig und begeistert an einem Sozialverbund teilnimmt wie hier. Ich sehe mich allerdings sehr wohl zu einem genaueren Nachdenken über die Eingangsfrage veranlasst. Und zwar nicht nur deshalb, weil es sich Gerald Specht selbst mit seinen Angeboten und Antworten produktiverweise noch nie billig machte. Sondern vor allem, weil mir durchaus bewusst ist, dass die erstaunlich langfristige Attraktivität und Tragfähigkeit dieser Gruppierung nicht aus alleinigem Sichwohlfühlen genährt sein kann, denn „good feelings“ sind zwar unbedingt notwendig, aber nicht hinreichend für dauerhafte Motivierung. Eine solche verweist vielmehr darauf, dass Jakob hier für sich entscheidend auch wirkliche und damit wirksame Lernereignisse und Entwicklungsprozesse wahrnehmen kann, dass er das RhythmikStudio als einen Ort erfährt, an dem sich immer wieder Neuland für ihn eröffnet, von Kindern eigenständig betretbar und aktiv mitgestaltbar. Also, im Grunde genommen sucht unser Sohn allwöchentlich einen vielschichtigen und faszinierenden Welterschließungsraum auf, in dem lehrende Anleitung und kindliche Selbsttätigkeit offenbar in einem so gelingenden Mischverhältnis antreffbar sind, dass dieser auch zum konstruktiven Selbstveränderungsraum wird, die Entdeckungs- und Lernlust wach hält und wachsen lässt. Weil Jakob in diesem Kontext eben jenes soziale und inhaltliche Heimischwerden erlebt, das erst neugierig auf mehr Welterfahrung macht, verkörpert die Begegnung mit dem RhythmikStudio für uns institutionserfahrene Eltern einen außergewöhnlichen, einen raren pädagogischen Glücksfall.

Wildwuchs
Als Jakob mit genau drei Jahren in seine erste Rhythmikgruppe einstieg, kam da ein, naja, reichlich vitales Kind, auffallend intensiv und expressiv, im Positiven und im Negativen: ein Drauf- und Drübergänger, mit egozentrischen Platzansprüchen auf Eroberungsoffensive, ungebärdig und überschießend, stürmisch und drängend, sehr beeinspruchend und beanspruchend, mit höchst leidenschaftlichen Interessen, dabei querköpfig, unbeirrbar und lernoffen zugleich. Jedenfalls war unser Sohn insgesamt so lebhaft geraten, wie wir Eltern uns das theoretisch ja gewünscht hatten, nun aber praktisch auch aushalten mussten. Einen in jener überanstrengenden Zeit notwendigen Trost, bei allem Mutterstolz, fand ich, als ich bei der Psychoanalytikerin Françoise Dolto sinngemäß las, ein Kind, das in dieser Altersphase nicht auch der Schrecken seiner Umgebung sei, nehme keine gute Entwicklung. An dieser Feststellung konnte ich mich natürlich nicht zweifelsfrei, nicht ohne Fragezeichen anhalten, aber sie half mir doch, an unseren pädagogisch eher wachstumsoffeneren und damit wilderen, hoffentlich aber nicht verwilderten Weg zu glauben. Und gelegentlich flüchtete ich mich damals einfach in die Ironie, Jakob sei halt ein schlecht erzogenes Einzelkind später Eltern.

Die Rhythmikkurse wurden nun zur zweiten institutionalisierten Kindergruppe unseres Sohnes. Seit einem Jahr nahm er an einer Spielgruppe teil, jetzt suchten wir Eltern einen zusätzlichen wöchentlichen Treffpunkt, da wir mit dem Kindergarten noch zuwarten wollten. Etwas „irgendwie Musikalisches“ erschien uns besonders sinnvoll, weil wir in diesem wesentlichen Kulturbereich selbst kaum vermittlungskompetent sind. Hier musste sich Jakob außerdem erstmals ohne Mama in eine Gruppe wagen, seine Neugierde und der Stolz auf die Autonomie überwogen aber deutlich die Ablösungsängste. Mir selbst war anfangs eher mulmig zumute, ob und wie es mit unserem ausgeprägten „Hoppla, jetzt komme ich“ -Sohn in einem in mehrfacher Hinsicht neuen Zusammenhang vor allem auch sozial gehen würde. Es ging. Und es wurde ein guter Werdegang.

Lebendigkeitsformen
Seine neue Welt passte Jakob ganz offensichtlich, von Anfang an zeigte er sich sozusagen ausdrücklich beeindruckt. Denn schon nach den ersten Gruppenstunden betrieb er eine aktive Erzählform, indem er zuhause Gerald Specht spielte und mit uns Eltern fortlaufend Rhythmikkurse veranstaltete. Bereitwillig lernten wir also das Begrüßungs- und Abschiedslied der Gruppe, klatschten und stampften nach Jakobs Vorgaben, hopsten, bückten und streckten, drehten und wendeten uns mit allseitigem Vergnügen. Dabei genoss es unser Sohn nicht nur, seinen Eltern Unbekanntes beibringen und Lektionen erteilen zu können, er lernte selbst wesentlich über diese Vermittlungstätigkeit, durch sein eigenes Lehren. Es war uns wichtig, mit kindlicher Begeisterung ansteckbare Eltern zu sein und einen häuslichen Resonanzboden für die Rhythmikgruppe zu bilden, diese somit nicht zum lediglich additiven, nur konsumierbaren “Fördertermin“ für Jakob zu verkleinern, sondern sie als höchst bedeutsam in unseren Lebensalltag zu integrieren und ausstrahlen zu lassen.

Inhaltlich fing Jakob auch deshalb so stark Feuer, weil er für Gerald Specht entflammte, seine Lernbeziehung also auf der besten aller Voraussetzungen, einer Liebesbeziehung, fundieren konnte. Aus seiner vollen Identifikation heraus wollte er nach kurzer Zeit „auch eine Gitarre, wie Gerald“, wollte sich dessen Markenzeichen bzw. Werkzeug zu eigen machen. Jakobs Umgang mit dieser Gitarre wurde zum gleichsam zentralen Nebeneffekt der Rhythmikkurse, sie ist bis heute eine ständige Begleiterin unseres Sohnes. Mit ihr ging er ganz einfach ans Werk, nur Gerald Specht imitierend, sonst gänzlich autodidaktisch. War da anfangs vor allem eine bloße Lust am neuen Ausdrucksmittel vernehmbar, am Beklimpern und Anschlagen der Saiten, am Ausprobieren und Herumspielen, so bekamen wir jedoch bald schon Erstaunlicheres zu hören, nämlich ansatzweise bereits Gestaltetes. Eindeutig mit der kontinuierlichen Teilnahme im RhythmikStudio zusammenhängend und anwachsend, entwickelte Jakob immer differenziertere Ausdrucksformen, spielte nun betonter laut oder leise, schnell oder langsam, behalf sich mit simulierten Griffen, wechselte zum taktvollen Klopfen, und er begann auch sich selbst zu begleiten, sein Singen bekannter oder spontan erfundener Texte rhythmisch zu untermalen. Jakob transportierte also das bei Gerald Specht Erfahrene und Gelernte immer wieder auf sein Instrument, übte experimentierend völlig von sich aus und für sich allein. Für uns Eltern, als Zuhörende erwünscht, aber nicht mehr als Dauerpublikum gebraucht, wurde dieses Gitarrenspiel zum wunderschönen und aufschlussreichen Erkenntnismedium für Jakobs überraschende Fortschritte. Mit seinen auf Rhythmik basierenden Fähigkeiten und seiner Ausdrucksfreude konnte sich unser Sohn allmählich auch eine neue soziale und quasi öffentliche Dimension erschließen, indem er die Gitarre zu Besuchen und Ausflügen, zu Geburtstagsfeiern, in den Kindergarten usw. mitschleppte und dort gewitzte und witzige Beiträge einbrachte, mit denen er sich konstruktiv positionierte und ankam.

In das Gruppengeschehen im RhythmikStudio hatte ich klarerweise keinen so umfassenden Einblick wie in die individuelle Entwicklung unseres Sohnes. Aber die wichtigste Information dazu steckte ja bereits in der auffallenden Zufriedenheit und guten Laune, die andere Kinder und Jakob am Ende der Kursstunden verströmten. Hinweise auf ein lebendiges Klima bot auch die Geräuschkulisse, die uns Begleitpersonen im Vorraum umgab, wir hörten fröhliche Klänge und ausgelassenes Jauchzen, wildes Geschrei und spannende Stille. Und gelegentlich bekamen wir einen direkten Zugang zur Gruppe, wenn uns die Kinder zu Präsentationen ihrer Stundenergebnisse holten und mit aufgeregtem Stolz zeigten, zu welchen individuellen Motiven sie ein Seil geformt hatten, wie sie verschiedene Instrumente aufeinander bezogen, sich mit Zeitungspapieren verkleideten, eine Liedgeschichte spielerisch lebten, usw. Die Differenziertheit dieser Produktionen steigerte sich im Laufe der Jahre immens, heute baut sich die Gruppe z.B. anspruchsvolle, kunstfertige Gebilde aus Stäben und Reifen, verblüffend fragil und stabil zugleich, einen ähnlichen ästhetischen Genuss wie innovativste Architekturentwürfe verkörpernd. Solche Gemeinschaftsproduktionen bergen Rückschlüsse auf ihre Entstehungsprozesse, und für mich bezeugen sie sowohl das erstaunliche Potenzial der Kinder als auch das pädagogische Können von Gerald Specht, der aus jenem zunächst chaotischen Haufen von einzelnen, die sich einmal wöchentlich im RhythmikStudio einfinden, eine Gruppe zu formen vermag, die so offensichtlich zielgerichtet und erfinderisch, behutsam und präzise, konzentriert und koordiniert zusammenarbeiten kann. Diese kreative Gemeinsamkeit, über inhaltliche Vorhaben vermittelt und in mitteilbare Gestaltungen mündend, ermöglicht den Kindern nicht nur persönlich und sozial relevante Erfahrungen, sie enthält auch demokratiepolitisch bedeutsame Impulse. In diesem dauerhaften Aufbau- und Erneuerungskontext erlebe ich Jakob in vielschichtige, qualitativ einzigartige Lernprozesse eingeflochten, in spielerische und ernsthafte, offene und verbindliche Weiterentwicklungen.

War unser Sohn in seiner frühen Rhythmikzeit noch sehr egodominiert und auffallend lehrerzentriert, konnte die Gesamtgruppe vorerst wohl nur als ledigliche Masse abbilden, so begann er doch, bei nur einstündigen Kontakten pro Woche, eher rasch andere Jungen und Mädchen namentlich zu kennen, von ihnen zu erzählen und sie anzusprechen, sie somit als wichtige andere Personen zu sehen. Jakob lernte und lernt, in einem allerdings sehr langwierigen und oft mühsamen Prozess, seine eigenen Platzansprüche sowie seinen Bewegungsdrang im Zusammenhang einer notwendigen Raumaufteilung für alle zu verorten und dies als Voraussetzung für produktive Gruppenerlebnisse zu begreifen. Im Laufe der Zeit erarbeitete er sich also auch im Sozialverhalten sozusagen Taktvolleres, zudem nimmt er inzwischen, selbst konturierter geworden, andere Kinder erstaunlich differenziert in ihrem jeweiligen Eigenformat wahr.

Möglichkeiten des Lernens bot außerdem die Zeitstruktur selbst. Der Gruppentermin half mir bei meinem Anliegen, Jakob tunlichst von Haus aus Verbindlichkeit zu vermitteln, gekoppelt mit der grundlegenden Erfahrung, dass Wichtiges und Wesentliches einen gebührenden Zeitraum benötigt, von Ruhepausen umrahmt, um wurzeln und wachsen zu können. All die Jahre bildete der wöchentliche Rhythmiknachmittag einen positiv besetzten Fixtermin, den wir nur im Krankheitsfalle o. ä. verabsäumten. Zudem legte ich Wert auf Pünktlichkeit, selbst wenn diese im anfänglichen Kleinkindalter unseres Sohnes oft Stress verhieß. Mit ihr wollte ich ein Respektverhältnis gegenüber anderen und uns selbst sowie gegenüber dem Inhalt zum Ausdruck bringen, und mit ihr wollte ich Jakob auch jene kleine Muße vor Ort verschaffen, die ihm ein würdevolles Sicheinstimmen auf das Fließen des Gruppenprozesses erlaubte und keinen Sog eines bloß oberflächlichen Kursabsolvierens aufkommen ließ. Für unseren Sohn wurden also insgesamt früh, noch vor dem Kindergarten und auch in diesem dann kaum so pointiert, kontinuierlich unterschiedliche Umgangsweisen mit Zeit erkennbar, sowohl eine flexiblere bis mitunter chaotische im Privatleben als auch eine fester strukturierte und klar begrenzte im öffentlicheren Raum. Und es war vor allem die Vorfreude auf das RhythmikStudio, die Jakob den Quantensprung vom kindlichen Trödeln zur produktiven Disziplinierung immer wieder schaffen ließ.

In der Anfangsphase des ersten Kursjahres bedeutete die Rhythmikgruppe, zusammen mit Jakobs Spielgruppenerfahrungen, den Einstieg überhaupt in ein institutionalisiertes öffentlicheres Leben, in die Auf- und Anregungen der außerfamiliären Welt. Auch als unser Sohn dann den Kindergarten besuchte, der ja einen unvergleichlich größeren wöchentlichen Zeitraum umspannt, war uns das Weitermachen im RhythmikStudio einfach selbstverständlich. Wie ungeahnt wichtig und richtig dies war, erschloss sich mir erst viel später mit zunehmendem Kindergartenerleben. Wäre Jakob in seiner Kinderhauszeit nämlich nicht von einem zweiten Gruppenstandbein getragen worden, wäre es uns Eltern doch glatt passiert, einem Privatkindergarten mit leider allzu privatistischen Zügen, mit inhaltlichen und sozialen Abschottungstendenzen, das Monopol auf die frühe Öffentlichkeitserfahrung unseres Sohnes zu geben. So hingegen konnten wir mitunter Problematisches durch gleichzeitige Gegenerfahrungen besser erkennen sowie relativieren, und als wir uns schließlich für einen Kindergartenwechsel entschieden, keine Kleinigkeit, stand für Jakob neben der Erfahrung des Abbruches auch jene des Weitergehens, des mehrjährigen Gelingens in seiner Rhythmikgruppe. Gerade in dieser Krisenzeit erwies sich die Mehrfachverortung unseres Sohnes als äußerst hilfreich, ich halte eine solche aber zudem, über eine eventuelle Absicherungs- und Auffangfunktion weit hinausgehend, für grundsätzlich produktiv. Denn mit institutionellen Alternativen ist schon für Kinder strukturell die Möglichkeit angelegt, Grundzüge des Demokratischen aufzunehmen, Öffentlichkeit in ihrem Alltagserleben nämlich als differente und heterogene statt als monolithische und homogene zu begreifen. Es fördert ihr frühes Unterscheidungs- und Urteilsvermögen, wenn sie über längere Zeiträume hinweg in verschiedenen Sozialformen eben auch verschiedene Lebendigkeitspegel kennen lernen, menschliche Wärme- und Kältegrade, Führungsstile und Motivierungen, Erlaubnisse und Verbote, Umgangsweisen mit Abweichungen usw., sowie zugleich sich selbst als mit dem Kontext variierend erfahren. Eine solche Vielfalt heißt nicht nur soziale und inhaltliche Bereicherung, sie gestattet auch den Vergleich von Gestaltungen, der z. B. die altersgemäß sehr hohe, noch familienverwandte Abhängigkeit der Kinder von Leitungspersonen zumindest um Spurenelemente zu reduzieren vermag. Für unseren Sohn war es die Verankerung im RhythmikStudio, die ihm während seiner anfänglichen Kindergartenzeit eine notwendige Öffnung seiner Öffentlichkeitserfahrung sicherte und ihm eben jenes Vergleichen ermöglichte, das ihn bereits um einiges welt- und lebenserfahrener, kritikfähiger und damit längerfristig klarer und sicherer werden ließ. Inzwischen, nach einer kurzen, aber durchaus positiven Zeitspanne in einem anderen Kindergarten, geht Jakob zur Schule, und das liebend gerne, zudem gut vorbereitet gerade auch durch das vielschichtige, aber klar zielgerichtete sowie teamorientierte Lernen in der Rhythmikgruppe. Seit dem Schuleintritt ist diese um zusätzliche Funktionen angereichert. Unserem Sohn verschafft sie nun deutlich einen spielerischen Ausgleich in seinem stärker reglementierten und verpflichtenden Alltag. Und wir Eltern können ihm mit dem selbstverständlichen Fortbesuch außerdem greifbar die uns am Herzen liegende Botschaft vermitteln, dass wir den neuen Lebensabschnitt Schule als ein Weitergehen verstehen, nicht als Einschnitt, der das Kappen von wichtigem Vorangegangenem abfordert, dass Jakob bei seinem Aufstieg zum Schulkind also nicht sein Vorschulkindliches abwerten oder gar aussetzen, sondern weiterhin in sich bergen und pflegen möge.

In Form kommen
In diesem Zeitraum von vier Jahren, unserer bisherigen Teilnahmedauer im RhythmikStudio, hat sich unser Sohn kräftig verändert, entwicklungslogischerweise. Seiner ausgesprochen starken Vitalität konnte er aber treu bleiben, selbst wenn sein früherer Wildwuchs inzwischen notwendigerweise ein gutes Stück weit transformiert ist, also ansatzweise in Kultivierteres, in Stränge auch angeleiteten Wachstums überging. Sehr viel mehr Ersprießliches denn Verdrießliches bietend, überwiegend positiv strapaziös, macht sich Jakob nach wie vor durch lebhafte bis feurige Interessen sowie eine ungebrochene Äußerungslust kenntlich, er ist vieltönend sowie vielbewegt und –bewegend, vielfragend und noch lieber befragt, auch erfreulich erfinderisch. Inzwischen verfügt er allerdings über ein deutlich ausgebildeteres Spektrum an Ausdrucksweisen, die er zunehmend situationsdifferenzierend einzusetzen weiß und die ihn zugleich den Spielraum für Wildheiten besser abschätzen lassen. Ja, unser Sohn, vormals eben öfters auch ein Schrecken seiner Umgebung, ist jetzt schon erkennbar gestaltet und mitgestaltend, also ziemlich gut in Form.

Einst hatten wir Eltern für Jakob einfach etwas „irgendwie Musikalisches“ gesucht und dabei, völlig laienhaft, rein zufällig Rhythmik gefunden. Retrospektiv begreife ich, dass wir hier mehr Glück als Verstand hatten, denn erst durch das kontinuierliche Miterleben sowie Jakobs Fortschritte erschließt sich mir die pädagogische Relevanz etwa jener „dynamischen Struktur und Differenziertheit, die in Texten des RhythmikStudios betont wird. Zwar sah ich die Kinder immer erstaunlich zufrieden und vergnügt aus den Kursstunden kommen, aber erst im längeren Laufe der Zeit wurde mir bewusst, dass und wie es inhaltlich und sozial gerade die Rhythmik ist, die ihnen eine klare und zugleich offene, fordernde und fördernde Ordnung anbieten kann, die sie ganz ersichtlich für sich selbst so in Ordnung finden können, dass sie im besten Sinne eben „aufgeräumt“ sind. Denn gerade im künstlerischen Gestalten können sie anschaulich wie wohl selten etwas Zentrales, weil Zentrierendes lernen, das beim unerlässlichen, aber oft leidigen und konflikthaften erzieherischen „Grenzensetzen“ im Alltag sehr viel eher im Verborgenen bleibt. Im rhythmischen Tun mit seinem kennzeichnenden Zusammenbringen von Festem und Fließendem, von Markierungen und Übergängen, von Begrenzungen und Maßregulierungen, mit seinen Wechselspielen des Hervorhebens und Zurücknehmens, des variantenreichen Wiederkehrens usw. erfahren Kinder nämlich unmittelbar und lustvoll, dass Strukturierungen nicht unbedingt nur Einschränkungen heißen, sondern im Gegenteil erst die Voraussetzungen für bestimmte Erweiterungen verkörpern. Denn Strukturen bedeuten Spielmöglichkeiten des Auseinander- und Zusammensetzens, indem sie innere und äußere Beziehungen zwischen Unterschiedlichem auffinden bzw. herstellen lassen, sowie schließlich ein Gesamtgefüge in seinen Bestandteilen und Aufbauweisen erfassbar machen. Somit sind den Kindern inhaltliche und soziale Anordnungen und Anforderungen allmählich auch als feste Stützpunkte und –linien begreifbar, die haltgebenden Zusammenhang und konstruktive Dynamik bewerkstelligen und zugleich ihrem Erfinder- und Erfinderinnengeist erst produktive Bodenstationen und Flugbahnen eröffnen. Sie können anhand ihrer gemeinsamen Formungsprozesse und –produkte zunehmend bemerken, dass wirklich Gestalterisches eben nicht simpel und mühelos aus Chaos, Grenzen- und Maßlosigkeit, Überschwemmung und Verwirrung, aus bloß bedingungslosem Sichausdrücken und orientierungslosem Spontitum entspringen kann, sondern aus einem regelhaltigen Spiel mit Abgegrenztem und Zusammenhängendem entwickelt wird, aus einem offenen, aber ausgerichteten Verschieben sowie Neuverknüpfen von jeweiligen Einzelteilen und Substrukturen. Damit beinhalten die formidablen „kleinen Schöpfungsgeschichten“ im RhythmikStudio also auch Selbstgestaltungsprozesse der Kinder, weil in ihnen die Transformationsbewegung vom noch grenzen- und haltlosen Ego zum ansatzweise bereits strukturierten, dynamischen Ich und Wir immer wieder vollzogen wird. Im erfinderischen Erkunden, das sich weder bei Formlosigkeit noch bei Formalismus ereignet, weder bei laissez faire noch bei autoritärem Erziehungsverhalten, erfahren die Kinder, dass Formgebendes aus Konzentration entsteht, dass es von Differenzierungen anstelle von Gleichgültigkeiten lebt und unhintergehbar auf Ordnungen basiert, die allerdings verrückt werden dürfen. Mit diesem gründlichen exemplarischen Lernen im Gebiet der Rhythmik, übertragbar auf andere Lebens- bzw. Wissensbereiche, halte ich sie schon für erheblich davor gefeit, in ihrer Zukunft „Kreativität“ als bloß leere Phrase zu dreschen.

Die Rhythmikkurse sind als besondere Schule des Spürens und Sinnens, der Aufmerksamkeit und Sorgfalt wahrnehmbar, und bei einem solchermaßen genauen, also liebevollen Suchen, Finden und Erfinden kommen Kinder, aber auch Erwachsene, immer wieder zum Staunen. Dieses freudige, genussreiche und begeisternde Staunen über Berührendes und Wunderbares, darüber, dass und wie eigene Potenziale mit den Möglichkeiten der Welt zu einer ungeahnten Entfaltung und Fülle zusammenkommen, lässt mich außerdem an ein spezifisches, an Körperlichkeit ansetzendes „Philosophieren mit Kindern“ denken. Wenn etwa, wie kürzlich bei den Rhythmik-Erlebnistagen im steirischen St. Jakob, die Kinder von einem Ausflug in den Lebensraum Wald ein gemeinschaftliches Mobile mitbringen, das den inhaltlichen und sozialen Zusammenhang beflügelnd versinnbildlicht, oder verschiedene phantasievolle Instrumente, aus vorgefundenen Naturmaterialien selbst gefertigt, und den Eltern ein dazu erfundenes Lied vorsingen, dann fällt mir Michael Köhlmeier ein: „Philosophie sei der Trieb, überall zu Hause zu sein, sagt Novalis. Die Anti-Kraft dazu heißt Langeweile. Sie ist das Gefühl, überall fremd zu sein“.(2) Da Kinder im RhythmikStudio keine Musik von außen oder oben angetragen bekommen, sondern ein Musikalisches von unten her angelegt und bei ihnen ansetzend erleben, somit im mehrfachen Sinne von klein auf, sehe ich sie auf einer stimmigen und wurzelfähigen Basis sehr Vielschichtiges und Weitreichendes lernen, das ihnen Chancen vermittelt, sich selbst, selbsttätig und damit selbstsicher, in der Welt ein Zuhause zu schaffen, immer wieder zu sich zu kommen …

Ach ja, aber das fällt mir eben erst jetzt ein, damit hätte es im Grunde genommen auf Gerald Spechts Eingangsfrage wohl doch eine einfache Antwort gegeben. Jakob ist mit den Rhythmikkursen halt deswegen noch nicht fertig, weil er so vieles mit ihnen anfangen kann.

P.S.: Wir Eltern gratulieren dem RhythmikStudio zu seinem Bestehen und wünschen ihm ein langes und reichhaltiges Leben. Jenen Lehrenden, die wir bisher persönlich kennengelernt haben, leider nicht alle, Anja und Gerald Specht, danken wir für ihre großartige Leistung für die Kleinen. Sie vermitteln ein souveränes Wissen und Können, das, frei von jeglicher Arroganz, Entspanntheit und Humor erlaubt, und sie verkörpern auch jene von einem ernsthaften Herzensanliegen getragene Standfestigkeit und Suchbewegung, die einen liebevollen und sicheren Boden für die Lernschritte von Kindern bereitet.

Zitate:
(1) Peter Weiss, Marat/Sade, zit. von Marie Zimmermann,
Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen, in: Der Standard, 30.4./1.5.2002, S. 37.
(2) Michael Köhlmeier, über die Morde von Erfurt: Langeweile ist Dynamik für die Seele, in: Format Nr. 20, 10.5.2002, S. 41.